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Die Antwort der Stille …
roch an diesem Morgen für Émile Cartailhac nach verbrannten Papier. Der breite Aschenkegel im Kamin glimmte noch wie ein Vulkan, als sich neben ihm erneut die Magmakammer ausdehnte. Gleich würde an seiner Seite wieder die Lava der Vergangenheit leuchten. Gespeist durch all die Aufsätze, die seit der Entdeckung der Höhlenmalerei in Altamira für ihn wertlos waren. Würde das den Phönix locken? Oder würde ihn die Presse mit der Affäre ”Altamira” ersticken?
Als Fremder im eigenen Zimmer erinnerten ihn die vielen Briefe am Boden an das Treibgut aus einem Hochgebirge der Vergangenheit. Die meisten davon, die einen Bezug zu seinen früheren Arbeiten hatten, warf er ins Feuer. Außer jenen, die Kritik an ihm enthielten, oder deren Rückseite noch frei war. Cartailhac brauchte Papier. Jeder Gedanke und jedes Wort wurden zur Notiz. Natürlich auch seine Vermögenswerte und eine mögliche Auswanderung in eine französische Kolonie. Aber auch dort könnte die Vergangenheit ihre Schuld eintreiben. Alle anderen Optionen wurden je nach Befinden mal länger oder kürzer. Natürlich auch die der Ultima Ratio. Die letzte Stärke über alle Schwächen löste ein Brief eines Kritikers aus, der bereis in den Anfängen Sautuola als Fälscher entlastete. »Was würden Sie sagen, wenn Auguste Dumont dem Ort „der drei Lügen“ durch eine gezielte Satire in seiner Publikation „Gil Blas“ eine weitere hinzufügen wollte? Zusammen mit ihrer „fraglichen Expertise“ wären es dann nicht nur „fünf“, sondern auch der Olymp aller Satiren«.
Spott als Kulturpolitik?
Das „Santillana del Mar“ gerne als der Ort der drei Lügen bezeichnet wurde, wusste Émile Cartailhac bereits schon damals. Und das Altamira direkt neben der Gemeinde liegt ebenso. Von dort aus strebt der Protagonist Gil Blas im 17. Jahrhundert kritisch und humorvoll in die erlauchten Kreise vor. Und das gelang nicht nur ihm, sondern auch seinem Urheber Alain-René Lesage. Fortan war die Figur des Gil Blas der beliebte Prototyp des scharfsichtigen Spötters. Dass die satirische Zeitschrift „Gil Blas“, aber zeitgleich mit der Entdeckung der Höhle in Altamira erschien war, erstaunte ihn. Auguste Dumont, der Herausgeber dieser Zeitung, hatte ebenso wie Marcelino Sanz de Sautuola nicht nur den Intellekt für einen intelligenten Scherz, sondern auch die finanziellen Mittel. Immerhin war er der erste Herausgeber des Figaros. Cartailhac hatte bisher keine einzige Ausgabe von „Gil Blas“ gelesen, da er diese Form von Humor nicht mochte. Aber er war sich sicher, dass durch die neuen Belege seines Irrtums neue Leser hinzukamen. Er, der seine Disziplin immer als „Kulturwissenschaft“ sah, wäre für die Presse ab jetzt der Mittelpunkt für eine neue „Kulturpolitik.“ Weg von der Dominanz der Elite und hin zur kritischen Öffentlichkeit. Einen besseren Anlass für eine neue Identität der Kunst-Gesellschaft konnte es gar nicht geben. Alain-René Lesage würde erneut die Cafés des hellen literarischen Paris beleben, während sein Name als kulturpolitische Dekadenz durch die lichtarmen Hinterhöfe ginge. Am Ende sogar noch als Verpackung für den Fisch. Und Francis Magnard, der neue Chefredakteur des Figaros, könnte in der „Affäre Altamira“ wieder mal mit seinen Initialen, und nicht mit dem Pseudonym Charles Devitz unterschreiben.
Stolz oder Sühne?
Cartailhac wusste, dass all die düsteren Ahnungen der letzten Stunden nicht das Ergebnis einer schlaflosen Nacht waren. ”Sühne” flüsterte er, und brach es zugleich ab, als wäre es ein schmutziger Verband, der alles infizieren konnte.
Als Miteigentümer einer Zeitschrift über Urgeschichte kannte er die Gesetze des Marktes. Und die brachten bereits schon einmal sein Projekt zu fall. Ertrag und Einsatz standen am Ende weder für Sinn noch für Motivation. Artikel schreiben, Kunden gewinnen und Leserbriefe beantworten. All die Kritiken, die er nun las, waren das Ergebnis seiner Vorträge auf Kongressen und Tagungen; und denen als Herausgeber. Vor drei Jahren gab er das Projekt mit Trutat einvernehmlich auf. Trutat erkannte in der Fotografie ein Medium für die Zukunft und verpflichtete sich in seinen Schriften „nur das zu erwähnen, was er gesehen und getan hat.“ Dieser Anspruch von Trutat war ihm bekannt. Dass er ihn aber schriftlich in seine Arbeiten einbrachte, war ihm neu. Damit erhielt die Aussage im Licht der aktuellen Ereignisse einen völlig anderen Akzent. Gleichzeitig wurde ihm klar, dass auch Trutat einen radikalen Schnitt vollzog. Vielleicht brannte auch bei ihm der Kamin?
Zwei fliegende Hunde
Völlig ratlos zog Cartailhac einen Stuhl zur Bücherwand und schob die erste Hälfte von zwanzig Jahren Verlag mit breiten Armen zusammen. Staubflocken und lose Zettel rieselten auf dem Weg zum Kamin. Der zweite Gang war ebenso staubig, aber dafür schnell bewältigt. Als er den Spuren der losen Zettel folgte, sah er eine Kinderzeichnung. Eine Zeichnung von Madeleine. Der Tochter ihrer ehemaligen Buchhalterin. Als sie eines Tages ihre Tochter mitbrachte, schien die Trauer von Madeleine kein Ende zu finden. Nach jeder kurzen Phase der Ruhe warf ein heftiges Beben ihr Gesicht in die Hände. Ihr Hund Amice war kurz zuvor friedlich verstorben. Alles Leid in ihrem jungen Leben vereinte sich auf diese Stunden. Als Trutat hinzukam, nahm er sie väterlich in die Arme und sagte: „Dein Hund Amice ist zwar nicht mehr da, aber er fliegt nun zusammen mit dem Hund Trabant um die Erde. Und wenn du abends eine Sternschnuppe siehst, dann wedelt sie mit dem Schwanz.“ Trutat bezog sich dabei auf den Hund von Jule Vernes „Reise um den Mond“. Madeleine beruhigte sich und griff zu Bleistift und Papier. Liebevoll malte sie zwei fliegende Hunde und Sterne. Auch zur Freude von Cartailhac. Für Madeleine würde der nächste Tag wieder ruhig in die Zukunft fließen. So wie er es sich selbst als Kind wünschte. Eine Zeichnung hängte er über den Platz von Madeleines Mutter. Dort blieb sie, bis zum letzten Tag.
Selbstvergessen wischte er die Hände an der Hose ab. Sauber sollten sie sein, wenn die Zeichnung einen neuen Platz erhielt. Sauber und rein wie Jule Vernes Technik, die stets für Kinderhände geschaffen schien. An seinen Erfindungen klebt kein Schmieröl, Dreck oder Gestank wie er die Technik als Kind empfand. Bei ihm hatte die Elektrizität längst über die Dampfkraft triumphiert. Wissenschaft unterlegte er mit Farbe und Ironie und in seiner Technik funkelte die Zukunft.
Briefe an die Finsternis
Mit dem Wunsch nach Abstand sortierte Cartailhac flüchtig die letzten Schriftsätze für den Kamin. Nur bei einem Brief von Edouard Piette hielt er inne, der nach einem Fund in der Höhle von Marsoulas jeden Zweifel an Sautuola beseitigt sah. Ein Jahr vor Sautuolas Tod bat er ihn deshalb um eine Neubewertung. Aber er blieb dabei und legte den Brief in einer finsteren Ecke seines Regals ab.
Natürlich kannte er seine Entscheidung. Und er wusste auch, was er eben gelesen hatte. Und dennoch las er die Zeilen nochmals, als wollte er beweisen das alles in Ordnung war.
Nichts war in Ordnung. Der Mund wurde trocken, die Hand zuckte und der gesamte Körper rebellierte. Dieser Fehler bohrte sich nun tiefer in sein Empfinden als alles andere zuvor. Betäubt und mit hohlen Augen sah er, wie sich im Kamin die Blätter der Vergangenheit krümmten. Erst, als dünne Fäden nach oben zogen, stand er auf, und öffnete die rechte Hand, die mehr und mehr Zuflucht im warmen Ärmel fand. Diese Eigenheit ging auf ein Erlebnis aus seiner Kindheit hervor. Als sein Vater ihn einmal fragte, weshalb er in einigen Büchern ein Datum schreibt, und andere ohne Eintrag einfach darauf ablegt, schwieg er drei Tage lang. Und sein Vater sieben Tage länger. Und mit jedem Tag wurde der rechte Ärmel länger. Anfänglich trieb es ihn einmal in die Dunkelheit des Kellers. Aber die Kälte, der Geruch und die Isolation raubten ihn alle Sinne. Seitdem betrat er keinen Keller. Vielleicht versteckte auch die kleine Tochter von Sautuola für ihren Vater ihre zarten Hände in einem weiten Ärmel. Als Zeichen der fehlenden Anerkennung. Anerkennung ist die Nahrung für die Seele. Noch einmal griff Cartailhac nach einem Paket Papier, das früher unentbehrlich schien, und legte es auf die warme Asche. Auch die Fakten seiner Entlastung. Bekam der Phönix nun sein Nest? Ein letztes Mal erhellte eine erlösende Flamme seine Gedanken und ein müdes Gesicht. „Anerkennung ist die Wärme für die Seele.“
© Dieter Wolff
Was noch geschah:
1902 veröffentlichte Émile Cartailhac einen Artikel mit der Überschrift:… „Mea culpa d’un sceptique“ – „Ich habe gesündigt … ich bin ein Skeptiker “-
Gleichzeitig verbindet er mit dieser offiziellen Buße eine Botschaft an die jüngere Generation – „Unsere Jugend glaubt, sie wüsste alles“ – und bittet sie, „eine Geschichte zu schreiben, die nie ein Ende findet, deren Interesse aber ständig wächst“. Gleichzeitig kritisiert er seine Haltung gegenüber dem Fortschritt seiner Wissenschaft, und beschuldigt sich für das Unrecht gegenüber einem Ehrlichen. Viele lobten den Artikel als Beweis für Mut und intellektuelle Ehrlichkeit. Andere werteten ihn als kalkuliertes Eingeständnis.
Ebenfalls im Jahre 1902 besucht er Altamira und schrieb darauf in einem Brief an René Verneau: „Die Bilder sind grandios, kompliziert, schlau und originell. Über diese außergewöhnliche Welt, die von der schönsten dekorierten Höhle offenbart wird, müssen wir uns ausführlich unterhalten“.
In einem Brief vom 9. Oktober 1902 an die Familie Sautuola bekundete er unter anderem: „Wir leben in einer neuen Welt“.
1915 ehrte ihn die Geological Society of London mit der Prestwich Medal.
Émile Cartailhac verstarb im Jahre 1921in Genf.
Marcelino Sanz de Sautuola verstarb 1888.
23 Jahre lang wurde er ignoriert und als Lügner gestraft. Nach seinen eigenen Worten war die Entdeckung von „Altamira“ das größte Abenteuer seines Lebens und gleichzeitig die bitterste Enttäuschung.
In seinem botanischen Garten hinterließ er den größten Mammutbaum Spaniens.
Maria Justina Sautuola,
die als Neunjährige mit dem Ruf: „Papá bueyes“! (Papa, Ochsen!) die Malerei entdeckte, heiratete später in die Bankiersfamilie Botín in Santander! Aus deren Mitte erwuchs später die legendäre Bank „Santander“.
Modesto Cubillas Pérez,
der mit seinem Hund die Höhle entdeckte, verstarb 1881. Als König Alfonso XII im September 1881 die Höhle besuchte, schrieb er ihm kurz vor seinem Tod einen Brief, in dem er darauf hinweist, dass er der Entdecker der Höhle war. Und bat, „wenn er als würdig erachtet wird“, als armer Bauer um finanzielle Hilfe. Kurz danach verstarb er im Jahre 1881.
Francisco Santamatilde,
Fotograf aus Santander, warnte 1975 zum ersten Mal vor der Verschlechterung der Gemälde durch den massiven Zustrom von Besuchern.
Die Höhle Altamira
wurde 1977 und 1982 für den Publikumsverkehr gesperrt.
Viele Wissenschaftler warnten vor einer Wiedereröffnung. 2001 erfolgte die Einweihung einer materialgetreuen Nachbildung. Ihr Standort liegt etwa 500 m von der historischen Höhle entfernt. Trotz begrenzter Besucherzahlen wurde sie 2002 erneut geschlossen.
Fortsetzung:
Der Tag als der Nebel kam
Wie aus dem Nichts waren sie plötzlich da. Diese zwei matten Lichter. Unvermittelt, geräuschlos. In diesem dichten, kalten Nebel. Es war wie eine Begegnung der dritten Art. Sollte ich dem Himmel bald so nah sein wie der Erde? Und was war mit dem Fährmann? Nahm er auch eine Münze für den Einkaufswagen?