Die Kälte des Émile Cartailhac

Eine Höhle erobert das Licht.

Überall reißt die industrielle Revolution die Erde auf und düngt sie mit Fortschritt. Wer über die Zukunft spricht, kommt an Jules Verne nicht vorbei. Und wer die Zeichen der Vergangenheit deutet, nicht mehr an der Meldung aus Font-de-Gaume. Bereits zwanzig Jahre zuvor wurde ein ähnlicher Fund auf der Anhöhe „Altamira“ als Fälschung bezeichnet. Ein fataler Irrtum? Diesmal ging es bei der Entdeckung um alles. Um die Zukunft und um die Ehre. Immerhin brachte der junge Émile Cartailhac damals viele schier um den Verstand.

In Paris erstrahlten die Nächte in einem neuen Licht, und in Toulouse lagen für Émile Cartailhac die Tage im Dunkeln. Vor zwei Tagen erfuhr er von der grandiosen Qualität von Felsbildern in der Höhle von Font-de-Gaume bei Les-Eyzies. Ein Glanzstück für die Menschen vor Ort und für alle Prähistoriker wie ihn. Aber Émile Cartailhac tupfte sich erneut den kalten Schweiß von der Stirn. Seit dieser Nachricht krümmte er sich unter den Gedanken der Selbsterkenntnis, und sprach hier und da mit sich selbst. Und seitdem saß er als geistiger Bettler vor einem leeren weißen Blatt.

Sein Urteil stand wie ein Schornstein im Himmel

Jeder Gedanke zerriss den nächsten, und nichts brachte eine Antwort. Eine dringende Antwort für ein breites Publikum. Vom Bauer bis zum Wissenschaftler. Und für alle, die wussten, dass er Marcelino Sanz de Sautuola einst als gebrochenen Mann hinterließ. Verlacht und verhöhnt. Von engagierten Amateuren und robusten Vorsitzenden von Heimatvereinen, die sich damals dafür zuständig sahen. Und je mehr Sautuola im Namen seines Fundes auf Altamira um Gehör bat, desto mehr kam der Saal in Wallung. Angestachelt vom jungen Émile Cartailhac, der zuvor alles als „vulgären Streich eines Schmierers“ abtat. Ein Urteil, das wie ein Schornstein im Himmel stand, und mit seinem Dreck dem Himmel die Sonne stahl. Und im gleichen Atemzug berauschte er sich noch an den Fortschritten der Zeit. Jedes Wort über den Vorfahren des Menschen war ein Peitschenhieb. Und jedes Bild, das er über ihn entwarf, endete bei einem weggekrümmten Wurm. „Nein“ winkte Émile Cartailhac nun müde ab. Jede Silbe dieser Sätze war eine Tragik. Und in jedem Wort lag die Rolle als Staatsanwalt, Richter und geistiger Henker.

Warum zog er sein Urteil durch eine Wanne voller Gift?

Die Nachricht von der Höhlenmalerei in Altamira empfand er zuerst als „absolut neu und seltsam“. Erst später wurde daraus der „vulgäre Streich eines Schmierers“. Aber wer zog sein erstes Urteil durch eine Wanne voller Gift? Sein persönliches Umfeld oder seine aufblühende Eitelkeit? Sein Mentor Gabriel de Mortillet vereinfachte seine Arbeit über die Steinzeit stets mit den Worten: einfaches Werkzeug, einfacher Verstand! Waren das die letzten Worte die er vor der Abreise nach Lissabon mitnahm? Und warum bediente er sich ebenso einer einfachen Sprachen?

 Böse Worte für das Gute im Menschen?

Er hätte die Werke in Altamira auch elegant als ein paradoxes Trampolin in die Zukunft bezeichnen können. Oder als ein leuchtendes Radium auf dem Zifferblatt der Vergangenheit. Nein, er schritt mit dem Urteil der „schäbigen Fälschung“ voran. Darin sah er nicht nur ein wuchtiges Fazit für die überragende Stellung des heutigen Menschen, sondern auch ein Ausrufezeichen hinter seiner „wachsenden“ Kompetenz. 

Und die beruhte an diesem Nachmittag eindeutig auf der allgemeinen Veredlung des heutigen Menschen. Und damit war jedes böse Wort eine Rechtfertigung an das Gute im Menschen. Also genau das, was er und die Öffentlichkeit jetzt mit Blick auf ihn suchte. Aber es gab auch einen Spanier, der ihn seinerzeit auf dem Flur als borniert und gottlosen Homo novus bezeichnete. Ja, er hatte recht. Aber er konnte jetzt noch immer mit Darwin und den griffigen Worten „einfaches Werkzeug, einfacher Verstand“ als General in die Schlacht ziehen. Wäre da nicht der Vorwurf, weshalb er selbst niemals vor Ort war.

Wem gehört die Fantasie?

Cartailhac hielt sich die Hand vor dem Mund, als wäre er Zeuge eines grausigen Unfalls. In welcher Rolle sollte er antworten? Als Büßer oder als strammer Gardeoffizier? Oder in der Verbindung beider Charaktere? Völlig leer rieb der geistige Bettler in ihm über die Flecken seines Wasserglases. In einigen Ringen sah er Tierköpfe aus einer Höhlenwelt. Es musste der Teufel gewesen sein, der ihn einst derart in Rage reden ließ. Und zu welchem Preis? Niemand entlohnte ihn mit weltlicher Macht. Und niemand zwang ihn zu einem Urteil.

Dass er damals als junger Redner einen Saal zum Kochen brachte, erfüllte ihn nie mit Stolz. Auch nicht, als er anschließend durch den Saal und durch seine ”Gemeinde” schritt. Es hatte ihn nur gewundert, wie leicht es war. Und wie leicht es war, gegen sich selbst zu handeln.

Vielleicht hatte Sautuola seine gefestigte Fantasie provoziert? Immerhin sprach er nicht nur von einem künstlerischen Ausdruck, sondern auch von einem Erzählmuster. Cartailhac stand auf und setzte sich wie ein gestrafter in die Ecke des Zimmers auf den Boden. So wie er als Kind längere Zeit freiwillig im Keller saß. Als er ihn vor Hunger und Kälte über eine Hintertreppe verließ, stand er vor der bizarren Schönheit einer Rose. Völlig im Frost erstarrt. Zerbrechlich wie das feine Glas der Mutter. Fasziniert von der filigranen Schönheit der Kälte übertrug er diesen Eindruck auf sein junges Leben, und hüllte sich fortan erfolgreich in Schweigen. Wenn man in ansprach klang das immer etwas wärmer als bei den anderen. Da war mehr Zuwendung; und der Blick stand länger im Gesicht. 

Eine Zukunft, die sanft in den Tag fließt.

Unablässig rieb sich Cartailhac die Stirn. War das der Ansatz, der Jahre später einen Mann schier um den Verstand brachte? Kam sein harsches Urteil an jenem Tag womöglich aus dem Mund eines Kindes? Altklug, träumerisch und von dem Wunsch beseelt, endlich anerkannt zu sein. Oder suchte er mit diesem Urteil nur Ruhe? Bereits als Kind hasste er nichts mehr, als den Eintritt in seine Fantasie. In ihr waren Schönheit und Friede. Seine Geschenke, die er einst erhielt, hatten alle einen Bezug zu Technik. Er hasste aber nicht nur die Technik, sondern auch die Absicht hinter den Geschenken. Offensichtlich sah man darin ein Mittel gegen seine Hilflosigkeit in den einfachen Dingen des Lebens. Und je mehr er davon erhielt, desto mehr empfand er Technik als groß, laut und dreckig. Erst Jules Verne änderte später seine Sicht. Nein, er war nie ein Kind seiner Zeit. Während viele in seinem Alter bereits mit großen Gedanken in die Zukunft gingen, blieb er tief in der Hierarchie des Mittelalters. König, Ritter, Knappe und eine Tafelrunde. Mehr brauchte die Welt nicht. Und eine Zukunft, die sanft in den nächsten Tag fließt.

Der Durst nach Kritik

Weit über die Bettkante gebeugt saß Cartailhac auf einem Stuhl und sortierte auf dem Bett die Briefe der letzten zwei Jahrzehnte. Einige legte er offen aus, andere warf er zur Seite. Das war bisher die einzige Struktur, die er hatte. Ordentlich war er nie. Aber so langsam wurde ihm klar, dass die Briefe, die eine Kritik an ihm enthielten, die wichtigsten waren. Außerdem suchte er noch nach Berichten über den Zustand der Höhle von Altamira. 

Und die fanden sich zum Teil in ungeöffneten Briefen. Behutsam nahm er die Brille ab und rieb sich die Augen. Er hatte einen kollektiven Irrtum ausgelöst. Und auch das neue Bild der Wissenschaft missbraucht, die die Natur in ihre Bestandteile zerlegt. Dabei lag ihm nichts näher als die offizielle Anerkennung innerhalb der Wissenschaften. Aber in welcher? Waren sie nun Naturforscher oder Archäologen? Bisher wurden sie als Spatenwissenschaftler und Heimatvereine belächelt. Alles lag in den Händen von Quereinsteigern wie ihm als ehemaliger Jurist.

Und mit dieser Bürde forcierte er den Begriff „der Kulturwissenschaft“. Nun wurde diese Einordnung im kleinen Kreis der geistigen Elite eine Rampe für Häme und Spott. „Wissenschaft“, würde ihm die Presse erklären, bedeutet eine distanzierte Haltung zu sich selbst. Und Kultur? Kultur spiegelt Emotionen wider. Und natürlich auch Polemik und Demütigung, wie sie Marcelino Sanz de Sautuola mit „Altamira“ widerfuhr. Die erste und wohl fürchterlichste dieser Art erfolgte im September 1880 in einem großen Artikel der lokalen Santander-Zeitung El Impulsor. Darin begründete ausgerechnet der regionale Historiker Ángel de los Ríos aus Proaño den Verdacht der Fälschung. Warum sein Kollege den Weg über die Lokalpresse ging, war ihm heute noch ein Rätsel. 

Der Jakobsweg bedeutet Einkehr statt Abkehr.

Vielleicht war der Artikel über die Fälschung der Höhlenmalerei eine Gefälligkeit an den spanischen Klerus. Schließlich schürt die Evolutionstheorie den Konflikt mit der Institution Kirche, und ihrer weltlichen Auslegungen. Und damit auch an der Bestimmung und Besinnung des Jakobsweges, der in unmittelbarer Nähe des Fundortes verläuft. Wer ihn geht, geht ihn für sich. Der Jakobsweg, so sagte einmal ein Priester zu ihm, bedeutet Einkehr statt Abkehr. Und Einsicht statt Einfluss. Weshalb Marcelino Sanz de Sautuola als vermögender Mann niemals Einfluss auf ihn nahm, hatte ihn bereits zu Beginn seiner harten Beurteilung verunsichert. Und je länger dieser Zustand anhielt, desto klarer wurde ihm, dass Sautuola keine archäologischen Eitelkeiten pflegte. Im Gegenteil. Als man ihn auf eine Verbindung zu einem Künstler namens Retier ansprach, ließ er frustriert die Höhle schließen. 

Angespannt schob Cartailhac die Beine weit von sich, und las nur noch die Briefe, die groß und schwer in der Hand lagen. Und in einem fand er namenlose Skizzen und eine Legende über die Eindrücke eines unbekannten Malers aus Frankreich. Darin lobte er die Kraft der Farben und die hohe Abstraktion. 

„Die Meisterwerke lassen keine Textur eines Pinsels oder Gleichartiges erkennen. Ansatzlose Konturen und die Nutzung einiger Felsen als Relief sind geradezu genial.“ 

Cartailhac stöhnte hörbar auf. Damit war die Begründung seines Verhaltens mit Darwins Theorie und die Vereinfachung durch Gabriel de Mortillet mit: „einfaches Werkzeug, einfacher Verstand“ vom Tisch. Weggefegt von einem Wellenschlag, der höher und gewaltiger war als bei Jules Vernes Reise über den Ozean. 

© Dieter Wolff

Fortsetzung:

Die Kälte des Émile Cartailhac Teil II 

Émile Cartailhac war so blass wie der Morgen und so umwölkt wie der Himmel. Selbst er wusste nicht, ob der heftige Tritt auf die Holzdiele die Wut über sich selbst oder einfach nur der Enttäuschung galt. Dafür wusste er aber, dass er dringend Boden unter den Füßen bräuchte. Aber für was? Und für welchen Weg?